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Wie irrational ist Verlustaversion?

Das Buch von Verhaltensökonom und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann, „Schnelles Denken, Langsames Denken“, ist unbedingt empfehlenswert. Es gibt aber Irrationalitäten (kognitive Verzerrungen), die in diesem Buch möglicherweise zu vorschnell als solche erkannt werden. So zum Beispiel die Verlustaversion (die vom Autor sogar als die bedeutendste bezeichnet wurde: “… the concept of loss aversion is certainly the most significant contribution of psychology to behavioral economics.”). 

Bei dieser geht es darum, dass Menschen mit Risiken insofern „falsch“ umgehen, als sie Gewinne weniger schätzen, als sie Verluste fürchten. Dass sie beispielsweise nicht das Risiko eingehen 1 zu verlieren, wenn sie dabei nur 1,1 gewinnen können. Viele Studien haben bewiesen, dass Menschen das erst dann tun, wenn die Gewinnchance in etwa 1,8 Mal größer ist, als das Verlustrisiko. Obwohl es doch glasklar und mathematisch eindeutig erkennbar ist, dass schon 1,1 genügen müssten. Der Erwartungswert beträgt schließlich 0,1.

Was dabei, wie so oft, vergessen wurde ist, dass Sozialwissenschaften nicht so eindeutig mit mathematischen Methoden zu begreifen sind, wie Physik (an die sich vor allem die Wirtschaftswissenschaften gerne anlehnen). Und wenn sich Sozialwissenschaften schon von Naturwissenschaften Konzepte abschauen, dann sollten sie zumindest darauf achten, dass sie dies angemessen tun. Im Fall der Verlustaversion ist ihnen augenscheinlich ein schwerwiegender Fehler unterlaufen. Erstmals hat, meines Wissens, Ole Peters schlüssig darauf hingewiesen und gleich eine theoretische Erklärung dazu geliefert.

Einfach ausgedrückt hat er darauf hingewiesen, dass es in der Physik oft der Fall ist, dass es keinen Unterschied macht, ob man Ereignisse über eine Zeitspanne hinweg analysiert, oder zu einem einzigen Zeitpunkt (ergodische Systeme1Ergodizität (griechisch έργον: Werk und όδος: Weg) ist eine Eigenschaft dynamischer Systeme. Der Begriff geht auf den Physiker Ludwig Boltzmann zurück, der diese Eigenschaft im Zusammenhang mit der statistischen Theorie der Wärme untersuchte. Ergodizität wird in der Mathematik in der Ergodentheorie untersucht.). Dass aber nicht alle Systeme ergodisch sind, so wie beispielsweise die Auswirkung von eingegangenen Risiken. Es macht einen Unterschied, ob eine Person 100x eine bestimmte Wette eingeht, oder ob 100 Personen die gleiche Wette 1x eingehen.

Warum das beim Eingehen von Risiken so ist, kann man sich gut vorstellen, wenn man an unsere Vorfahren vor vielen Jahrtausenden denkt. Sie haben irgendwann bemerkt, dass sich Fleisch gut auf ihre Überlebenschancen und ihre Entwicklung auswirkt. Diese Entdeckung brachte nun eine neue Herausforderung in Sachen Risikomanagement mit sich, die ihr Überleben entscheiden würde.

  • Die besonders Emsigen, eher Risikoscheuen, die jeder Beute nachjagten, die sie vor ihre Augen bekamen, starben bald aus, weil sie für die Jagd ihrer Beute mehr Energie verbrauchten, als sie von der Beute gewannen. Sie starben an Überanstrengung, oder, weil sie von erfolgreicheren (fleischessenden) Artgenossen ausgerottet wurden.
  • Die besonders Ehrgeizigen, eher Mutigen, ließen sich nur von den richtig großen, also gefährlicheren Beutetieren, zur Jagd bewegen. Sie starben bald aus, weil sie entweder bei der Jagd umkamen, oder sie die Jagd zu oft erfolglos abbrechen mussten. Sie jagten zu oft vergeblich nach besonders ergiebiger Beute, sodass sie irgendwann zu viel Energie für erfolglose Versuche verschwendet hatten und schließlich gar nicht mehr jagen konnten.
  • Und dann gab es jene, die (zufällig?) das richtige Maß erkannt hatten. Sie suchten ihre Beute so aus, dass sowohl der potenzielle Energiegewinn, als auch die Erfolgschancen ausreichend groß waren. Das Verhältnis war schon damals vermutlich näher bei 1:2, als bei 1:1. Diesen Vorfahren war bewusst, dass ihre Erfolgschancen weit über 1:1,1 liegen müssten, damit ihr Überleben langfristig gesichert ist. Sie hielten sich auch tunlichst von sehr hohen Erfolgsverhältnissen fern, weil ein einziger fataler Misserfolg ihr letzter gewesen wäre.

Heute richtet sich der Großteil aller Menschen in etwa an ein Erfolgsverhältnis von 1:1,8. Nicht, weil wir alle so intelligent sind, sondern weil unsere Artgenossen mit anderen Strategien schlicht ausgestorben sind. Glücklicherweise leistet sich die Natur noch heute immer wieder „Ausreißer“ nach oben und unten. Nach oben, Richtung angstbefreit, wenn Menschen irrwitzige Risiken eingehen, der Menschheit dadurch aber zu großen Sprüngen verhelfen. Und nach unten, Richtung überängstlich, wohl damit die Menschheit nicht ihr Gleichgewicht verliert.

Man hätte übrigens nicht einmal so weit, über Jahrtausende hinweg, ausholen müssen, um zu erahnen, dass mit der gängigen „Neuen Erwartungstheorie“ etwas nicht stimmen kann. Man braucht dazu Gewinne und Verluste einfach nur logarithmisch, statt linear, zu vergleichen. Verliert man von 100 20%, dann ist das auch faktisch schlechter, als wenn man 20% gewinnt. Um von 80 auf den Ausgang von 100 zurückzukommen, muss man 25% gewinnen. Von 120 auf 100 sind es nur 16,66%.

Oder man verlässt sich auf sein eigenes Gefühl: Wenn man mit einer Erfolgsquote von 51:49 entweder ein Ferienhaus gewinnt, oder seine Wohnung verliert, dann kann es nicht irrational sein, wenn man sich dagegen entscheidet.

Für mich ist diese Geschichte jedenfalls wieder eine Bestätigung dafür, dass man (die Wissenschaft/der Fortschritt) mit Annahmen, Schlüssen und Theorien tunlichst besondere Zurückhaltung walten lässt, wenn diese dem widersprechen, das sich über Jahrtausende erfolgreich bewährt hat.

Ich muss mir selbst vorwerfen, dass ich in der Vergangenheit bestimmte menschliche Verhaltensweisen zu voreilig als überholt oder sogar dümmlich eingeordnet habe. Ich bin auf dem Weg meine „jugendliche“ Überheblichkeit zurechtzustutzen und stoße dabei immer wieder auf Faszinierendes (so wie kürzlich auf die Arbeit von Iain McGilchrist).

Der herausragende Ole Peters liefert jedenfalls, wie schon eingangs erwähnt, die mathematische Erklärung zu unserem schließlich doch sehr rationalen Risikoverhalten.

Marc Elsberg hat zu diesem Thema einen spannenden Roman, „GIER – Wie weit würdest du gehen?“ verfasst, und sich eine anschauliche Fabel einfallen lassen. Hierbei geht es nicht um Fehler der Wirtschaftswissenschaften hinsichtlich menschlichen Risikoverhaltens, sondern um ihre blinden Flecken im Bereich der menschlichen Kooperation. Er veranschaulicht treffend, wie weitreichend die Auswirkungen sind, wenn (ergodische) Konzepte unrichtig eingesetzt werden.

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