„Der kommandierende General weiß sehr wohl, dass die Prognosen nichts taugen. Aber er braucht sie für Planungszwecke.“
_Kenneth J. Arrow
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…wollen Investoren von den weltbesten Experten wissen, wie sich die Aktienmärkte im kommenden Jahr entwickeln werden. Obwohl beiden Seiten mittlerweile glasklar ist, dass es weder klug ist, als Analyst solche Prognosen zu erstellen, noch als Anleger, sich nach solchen Prognosen zu richten.
Aber es steht eben viel auf dem Spiel. Und je mehr auf dem Spiel steht, desto lieber haben Menschen irgendeine Prognose, als gar keine Prognose. Das war immer schon so, und wird offensichtlich noch sehr lange so bleiben. Das bestätigt auch der oben angeführte Auszug aus der Geschichte, die Peter Bernstein in seinem fantastischen Buch1"Wider die Götter", die Geschichte der modernen Risikogesellschaft über den renommierten Wirtschaftswissenschaftler Kenneth J. Arrow2Arrow war im zweiten Weltkrieg beim Wetterdienst der Luftwaffe eingesetzt und dort mit der Erstellung von Regenprognosen auf Grundlage historischer Wetterdaten befasst erzählt:
Ein Vorfall, der sich ereignete, als Arrow das Wetter vorhersagte, veranschaulicht sowohl die Ungewissheit als auch den menschlichen Unwillen, sie zu akzeptieren. Einige Offiziere waren mit der Aufgabe betraut worden, das Wetter einen Monat im Voraus zu prognostizieren, aber Arrow und seine Statistiker stellten fest, dass ihre Langfristprognosen nicht besser waren als aus dem Hut gezogene Zahlen. Die Meteorologen waren sich einig und baten ihre Vorgesetzten, sie von dieser Aufgabe zu entbinden. Die Antwort lautete: "Der kommandierende General weiß sehr wohl, dass die Prognosen nichts taugen. Er braucht sie jedoch für Planungszwecke".
Peter L. Bernstein, Against the Gods: The Remarkable Story of Risk, Chapter 12, "The Measure of Our Ignorance"; eigene Übersetzung
Nun gibt es möglicherweise Schlimmeres, als Kapitalmarktexperten, die belanglose Dinge von sich geben und Anleger, die diese Belanglosigkeiten unbedingt hören wollen. Zwei Aspekte lassen mir dennoch keine Ruhe.
Erstens, das ungenierte Gebaren der Finanzindustrie als Verkäufer, obwohl sie bei jeder Gelegenheit unermüdlich und mit Nachdruck versucht, sich als Berater zu positionieren.
Das primäre Ziel eines Verkäufers, bzw. Geschäftsmanns, ist der wirtschaftliche Erfolg. Um sein Ziel zu erreichen, darf er, bis zu einem gewissen Ausmaß, menschliche Schwächen sogar bewusst ausnützen.3Das Ausmaß bestimmen die Gesetze. So dürfen Geschäftsleute ihren Erfolg mithilfe von raffiniertem Zucker vorantreiben, nicht aber mithilfe von Drogen. Inwieweit der Konsument durch sein Konsumverhalten tatsächlich die eigenen Bedürfnisse stillt und Wünsche erfüllt, bleibt ihm selbst überlassen.
Vertrauen gewinnt man, wenn man Schwächen seines Gegenübers nicht ausnützt.
Dafür sind Berater zuständig. Das primäre Ziel eines Beraters - Steuerberater, Rechtsberater, Gesundheitsberater, etc. - ist es, zumindest theoretisch, Menschen besondere Expertise für bestimmte Lebenssituationen zur Verfügung zu stellen. Der wirtschaftliche Erfolg ist hier nicht das Ziel, sondern das logische Ergebnis einer guten Arbeit4warum dieser Zugang nicht auch von den "Geschäftsleuten" erwartet wird, ist eine andere Geschichte. Von Beratern wird nicht nur erwartet, dass sie Schwächen nicht ausnützen, sondern dass sie Menschen nach Möglichkeit helfen, Schwächen zu erkennen und zu überwinden.
Vertrauen ist ein wesentliches Merkmal solcher Beziehungen. Nicht zuletzt, weil man sich betreffend einer kritischen Lebenssituation dem Expertenwissen ausliefern muss. Wird das von Privatanlegern geschenkte Vertrauen angemessen geschätzt, oder eher doch zum eigenen Vorteil ausgenützt?
Alle Finanzexperten wissen mittlerweile, dass sie mit ihren Prognosen nur verlieren können, und geben sie seit Jahren nur mehr widerwillig ab. Mittlerweile sogar ohne Nachkommastellen (!). Aber sie geben sie trotzdem ab, weil sie müssen. Insbesondere die größten Anbieter, denn diese richten sich an die breite Masse. Und die breite Masse hört eben noch immer lieber irgendeine Prognose, als gar keine Prognose. Großanbieter, die sich weigern mitzuspielen, werden einen empfindlich großen Teil ihrer Kunden an die Konkurrenz verlieren.
Es ist schlimm genug, dass die Finanzindustrie ihre eigentliche Aufgabe im Zusammenhang mit Privatkunden nicht erfüllt. Und dass dies durch die Allgemeinheit bereitwillig akzeptiert wird. Wenn die Finanzindustrie jedoch gleichzeitig und unermüdlich verlangt, dass man ihr ihre „Beratertätigkeit“ doch glauben möge, dann ist das perfide und mindestens problematisch.
Eigentlich eine hervorragende Chance für kleinere Anbieter. Sie benötigen für ihr Überleben nicht die breite Masse, und können durch ungewohnt redliches Verhalten hervorstechen. Klar, es ist ungleich einfacher seinen Kunden das zu geben, was sie so gerne hätten, anstatt ihnen zu vernünftigen Verhaltensweisen zu verhelfen. Es ist daher kein Zufall, dass auch die meisten kleinen Anbieter diesen leichteren Weg nehmen. Aber der langfristige Vorteil, den konsequent redliches Verhalten vor allem auf diesem Gebiet birgt, wird vermutlich gewaltig unterschätzt.
Zweitens, das Festhalten der Experten/Analysten an einer ganz offensichtlich erfolglosen Prognosemethode. Ich meine, wenn ich Experte bin und irgendwann erkenne, dass verfügbare Theorien, Modelle und Methoden keine brauchbaren Ergebnisse hervorbringen können und ich mich trotzdem gezwungen sehe solche Prognosen zu erstellen: sollte ich mir nicht spätestens dann die verfügbare Evidenz genauer ansehen?
Würden Experten dies tun, dann würden sie bald erkennen, dass sie wohl selbst Opfer ihrer Schwächen sind. Dass ihre Modelle noch so gut sein könnten, der Ankereffekt5Ankereffekt (englisch anchoring effect) ist ein Begriff aus der Kognitionspsychologie und beschreibt den Effekt, dass Menschen bei Entscheidungen von Umgebungsinformationen beeinflusst werden, ohne dass ihnen dieser Einfluss bewusst wird. Die Umgebungsinformationen werden als der „Anker“ bezeichnet, an dem sich die Entscheidung orientiert. sie aber davon abhält, treffendere Prognosen zu erstellen.
Die Evidenz zeigt, dass die jährliche Entwicklung der Aktienmärkte regelmäßig extremer ist, als es für Analysten, und auch alle anderen Menschen, intuitiv angemessen wäre.
Auch dieses Jahr wieder, so wie auch alle Jahre zuvor, gruppieren sich die Prognosen aller Experten, in der Graphik Orange gefärbt, (a) um Null herum, mit (b) einer leichten Neigung in Richtung positiver Entwicklungen.
Obwohl, und das ist das Erstaunliche, die Daten der Vergangenheit eindeutig zeigen, dass (a) sich die Mehrheit der Datenpunkte an den Extremen anhäufen, und (b) die positive Neigung deutlich stärker ist, als dies die Expertenprognosen implizieren.
Einen Eindruck der Verteilung der einzelnen Jahresentwicklungen gibt es hier:
Datenprofile ab 1871 | ab 1945
Die Aufteilung in "ab1871/ab1945" wurde vorgenommen, um einer (möglichen Weiter-) Entwicklung der Kapitalmärkte Rechnung zu tragen. Man kann erkennen, dass die Jahresergebnisse ab 1945 zwar etwas weniger extrem sind, das Profil bleibt aber mehr oder weniger das gleiche. Abgesehen davon:
In den vergangenen 78 Jahren lag die Hälfte aller Beobachtungen über +11,8% (Median für Daten ab 1945), und dennoch rechnet nur einer von 15 Analysten damit, dass so etwas auch im kommenden Jahr geschehen wird.
13 von 15 Analysten rechnen damit, dass sich die Entwicklung im kommenden Jahr irgendwo zwischen -5,25% und +9,5% befinden wird. Obwohl seit 1871 (1945) nicht einmal 30% (25%) aller Beobachtungen in dieser Bandbreite auftraten.
Oder: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Jahresperformance des S&P 500 über der höchsten Schätzung (Yardeni Research: +13,7%) oder unter der tiefsten Schätzung (JP Morgan: -11,6%) liegt ist höher6mit etwa 55% : 45%, als die Wahrscheinlichkeit, dass irgendeiner der Experten Recht behalten wird.
Offensichtlich wird diesen besten aller Kapitalmarktanalysten von ihren Instituten vermittelt, dass konventioneller Misserfolg eindeutig weniger Nachteile mit sich bringt, als unkonventioneller Erfolg jemals Vorteile mit sich bringen könnte.
Die größten aller Finanzinstitute tun nicht nur alle Jahre wieder das Gegenteil dessen, was sie tun sollten. Sie tun es auch auf die denkbar fantasieloseste Weise.