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Was kann uns ein Börsenjahr wie 2022 über die kommenden Jahre verraten?

Verlässt man sich auf seine Gefühle und die Erfahrungen der letzten Jahre, dann kann man dem kommenden Börsenjahr aus vielen guten Gründen besorgt entgegenschauen. Sich auf diese Gefühle zu verlassen ist im Wesentlichen aus zwei Gründen eine schlechte Idee: Erstens, weil wir im Angstzustand nicht denken dürfen. Das lässt unser Hirnstamm, der älteste Teil unseres Gehirns, nicht zu. Dieser Teil, der manchmal auch Echsengehirn genannt wird, übernimmt die Kontrolle, wenn es ernst wird. Alle anderen Teile des Gehirns werden von ihm stummgeschaltet, wenn es ums Überleben (Verhindern von massiven Vermögensverlusten) geht. Emotionen, Wünsche oder gar logisches Denken haben dann vorerst Sendepause. Und das ist auch gut so, es ist der Grund, warum wir heute überhaupt noch auf dieser Welt leben. Nicht so gut ist, dass sich dieser Hirnstamm über Jahrtausende für das Überleben in der Wildnis entwickelt hat, nicht für das Überleben in einer modernen Zivilisation, und schon gar nicht für das Bewahren von Finanzvermögen oder Erfolg an Kapitalmärkten.

Zweitens kann niemand wissen, was in den kommenden Monaten und Jahren passieren wird (wer sah 2019 die Pandemie voraus?) und schon gar nicht, wie die Börsen auf diese Geschehnisse reagieren werden (wer glaubte im Frühjahr 2020 an ein positives Börsenjahr, bzw. ein sattes Plus im Jahr 2021?).

Was man machen kann ist, die aktuelle Situation mit der Vergangenheit zu vergleichen. Quantitativ, basierend auf verfügbaren Evidenzen. Das Ergebnis einer solchen Betrachtung ist zwar nicht so eindeutig, wie jenes, das man durch Einschätzungen von Analysten, Prognosen von Experten, oder Eingebungen von Propheten erhält. Aber es ist aussagekräftiger.

Die Graphik zeigt im Vordergrund die jährlichen Renditen des S&P500 von 1871 bis heute. Im Hintergrund, blasser, sind für die selben Jahre die Renditen eines Portfolios abgebildet, das zu 60% US-Aktien und zu 40% US-Anleihen hält. Für das Jahr 2022 werden hier reale Renditen von -25%, bzw. -23% für Aktien und Anleihen, respektive, angenommen.

Folgt man den Standardannahmen der Kapitalmarktforschung, die im Kern davon ausgehen, dass Börsenkurse normalverteilte Zufallsvariablen sind, dann ist die Lage klar: 2023 wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein prachtvolles Jahr für Aktienanleger (und ein überwältigendes für Anleger, die 60:40 in Aktien und Anleihen anlegen). Erstens, weil von den letzten 152 Börsenjahren knapp 70% eine positive Rendite aufwiesen, die Wahrscheinlichkeit also ohnehin für positive Börsenjahre spricht. Und zweitens, weil sich normalverteilte Zufallsvariablen um ihren Mittelwert herum ansammeln, nicht an den Extremen. Nach einem extrem negativen Jahr muss ein extrem positives Jahr also viel wahrscheinlicher sein. Der Mittelwert der Rendite US-Amerikanischen Aktien (bzw. 60:40) über die letzten 152 Jahre liegt bei etwa 8,5% p.a. (bzw. 6%).

Nun sind Börsenkurse kurzfristig, also über einige Jahre hinweg, nicht normalverteilt, sondern pfadabhängig. Das bedeutet, die Entwicklung der nahen Zukunft wird maßgeblich von der Entwicklung in der nahen Vergangenheit beeinflusst. Weil Börsenkurse eben nicht von physikalischen Gesetzten getrieben werden, sondern von menschlichen Verhaltensmustern. Leider ist dieser „maßgebliche Einfluss“ nicht so stark, dass man darauf eine Anlagestrategie aufzubauen könnte. Ganz abgesehen davon, dass wir hier als Grundgesamtheit „nur“ 152 Jahre, und als relevante Vorfälle nur 5 Jahre haben. Statistische Aussagen also ohnehin auf sehr dünnem Boden stehen.

Kann also 2023 noch schlimmer als 2022 werden? Mit Sicherheit, wer beispielsweise 1973 sein Vermögen in Aktien angelegt hatte, verlor 1973 knapp 17% und 1974 nochmal knapp 24% seines Vermögens. Und er brauchte ganze 13 Jahre, um das Tal der Trauer endlich hinter sich zu lassen. Hinzu kommt die Tatsache, dass 1973 (bis 1983) zwar die schlimmste Periode der letzten 152 Jahre war. Als Anleger muss man aber davon ausgehen, dass die schlimmste Periode aller Zeiten immer in der Zukunft liegt, nicht in der Vergangenheit.

Klar, jener Anleger von 1973 verfünffachte schlussendlich sein Vermögen nach 25 Jahren (bis Ende 1997) – eine jährliche reale (inflationsbereinigte) Rendite von 7%. Aber das ist in solchen schwierigen Jahren ein schwacher Trost. Nein, leicht ist das Ganze nicht. Andererseits: wenn es leicht wäre, dann dürfte man als Aktienanleger keine realen Renditen von etwa 5% erwarten, sondern müsste sich mit Renditen begnügen, die Sparbücher oder Immobilien bieten. Kurzfristige Unsicherheiten sind der Preis, den Aktienanleger für langfristig hervorragende Renditen bezahlen.

Im Wesentlichen kann man aufgrund der Graphik nur drei Aussagen vorbehaltlos treffen:

  • das Jahr 2022 war für Aktienanleger eines der schwierigsten der letzten 152 Jahre. Für „risikoaverse“ Anleger, die ihr Vermögen nicht nur in Aktien, sondern auch in Anleihen angelegt hatten, war es sogar noch viel schwieriger. In den letzten 152 Jahren gab es nur zwei Jahre, in denen die Jahresverluste für solche Portfolios höher waren (1917 und 1974).
  • in der Vergangenheit haben Aktienanlagen über die darauffolgenden 25 Jahre eine jährliche reale Rendite von knapp 10% erbracht. Im Gegensatz zum Median des Untersuchungszeitraums, der bei 6,7% p.a. liegt. Aktienkapital hat sich also nach solchen Extremsituationen nicht nur verdreieinhalbfacht (6,7% über 25 Jahre), sondern fast versiebenfacht (+673%). Real, also nach Berücksichtigung der Inflation!
  • Anleger, die sogar in einem Jahr, wie 2022 eines war, ihre Anlagestrategie, bzw. ihren Anlageplan konsequent verfolgt haben, und nicht panisch umgeschichtet oder verkauft haben: diese Anleger (und Anlegerinnen – ich vermute es werden mehr Anlegerinnen gewesen sein, als Anleger) haben sich selbst bewiesen, dass sie die besten Voraussetzungen für Erfolg an den Kapitalmärkten besitzen.

Also ja, es ist durchaus möglich, dass 2023 ähnlich schlimm wie 2022 wird. Aber für Aktienanleger:innen, die einen Anlagehorizont von mehr als, sagen wir, 15 Jahren haben, sind das gute Nachrichten. Für jene die noch viel mehr Jahre vor sich haben, sind es hervorragende Nachrichten.

Hier, zur Erinnerung, die Wachstumsraten (jährliche Renditen, bzw. CAGRs) des S&P500 über unterschiedliche Zeiträume.1Für die Wachstumsraten über 25 Jahre, beispielsweise, werden die Wachstumsraten aller 300-Monatsabschnitte (25×12=300) seit 1871 berechnet (es gibt 1.524 solche Abschnitte). Auf der Graphik ist der „Mittlere Wert“ (6,7%), der höchste (12,4%), sowie der niedrigste (2,1%) Wert dieser 1.524 Datenpunkte dargestellt.

Lässt man diese Graphik "sickern", so ist ziemlich klar, was man als vernünftiger Anleger zu tun hat. Aber Vorsicht, auch wenn Analysen dieser Art das Zuverlässigste ist, das uns zur Verfügung steht: eine solche Analyse kann nur als vager Anhaltspunkt, nicht als zuverlässlicher Maßstab verstanden werden. An den Kapitalmärkten existiert keine Gewissheit. Ungewissheiten sind die Ursache der großartigen Renditen. Und:

  • die Daten beziehen sich auf den Aktienmarkt der USA2Weil nur für diesen Markt so umfangreiche Daten verlässlich verfügbar sind.. Dieser Markt war im 20. Jahrhundert der weltweit beste. Unter anderem, weil die USA in dieser Zeit die mit Abstand stärkste Wirtschaftsmacht waren. Das muss nicht so bleiben.
  • die Analyse geht davon aus, dass Anleger ausschließlich und konsequent in einen Indexfonds (oder ETFs) investieren. Aktiv verwaltete Aktienfonds oder gar selbst verwaltete Portfolios werden in der Regel eine deutlich geringere Rendite aufweisen.
  • die Analyse berücksichtigt keine Gebühren oder Steuern. Wird auf diese nicht ausreichend Augenmerk gelegt, wird die Rendite maßgeblich beeinträchtigt.

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