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Exponentielles Wachstum

Wenn etwas mein berufliches Leben dominiert, dann ist es die quantitative Analyse von Kapitalmärkten. Im Grunde also, wie/warum/wodurch sich Werte/Preise/Zahlen im Laufe der Zeit bewegen. Und dennoch werde ich von der Kraft des exponentiellen Wachstums immer wieder überrascht. Obwohl ich sogar diesem Blog einen Namen1amare (lat. Verb Inf.); 1. Pers. Singular Futur II Indikativ aktiv: amasso > ich werde geliebt haben in genau dem Bewusstsein gegeben habe,  dass exponentielles Wachstum für Menschen nicht erfassbar ist, und dessen Kraft erst im Nachhinein tatsächlich bewusst werden kann.

Zur Vorbereitung dieses Beitrags habe ich mir meinen Vorletzten – „Noch nie ein so rasanter Kursverlust / Teil 3“ – nochmals angesehen. Ich schrieb ihn am 20.3. und die Todesfälle durch COVID-19 waren in den USA innerhalb von wenigen Tagen von Null auf 600 angestiegen. Das war nicht überraschend, und mir war intuitiv klar, dass die Todesfälle in den kommenden Wochen sehr stark ansteigen würden. Aber was ist sehr stark? 0-600 und nach wenigen Wochen 6.000? Oder gar 20.000? Ohne weiter nachzudenken schwebte mir  gefühlsmäßig (ganz im Sinne von Kahnemans System 1) eine Menge von 10.000 bis 15.000 vor.

Mein Gefühl damals: ja, mag sein, aber vermutlich viel zu hoch angesetzt. Heute, nicht einmal einen Monat später sind es knapp 35.000 Todesfälle, deutlich mehr als das Doppelte meiner Schätzung „aus dem Bauch heraus“. Mein Gefühl heute: Ja, tragisch, aber eigentlich nicht überraschend. Und wie gesagt, ich beschäftige mich mit solchen Entwicklungen seit Jahrzehnten. Mag sein, dass ich ein besonders schlechtes Zahlengefühl habe. Besser gefällt mir die Vermutung, dass wir als Menschen einfach nicht dafür geschaffen sind, mit exponentiellem Wachstum umzugehen. Weil das Verständnis wohl nie nötig war. Ich wage zu behaupten, dass auch Sie von der Menge Weizen überrascht waren, die Sissa ibn Dahir in der Weizenkornlegende für die Erfindung des Schachspiels erhalten sollte.

Meinen vorletzten Beitrag habe ich mir nochmal genauer angesehen, weil mir schon damals ewas überraschendes aufgefallen war. Etwas, das eigentlich nicht überraschend sein sollte, das aber erst dann tatsächlich klar wird, wenn man die Zahlen mit eigenen Augen sieht. Bei dem Beitrag ging es um den 30%igen Kurseinbruch und die Entwicklung der Kurse nach ähnlichen Kurseinbrüchen in der Vergangenheit. Mit dabei war eine Aufstellung der jährlichen Wachstumsraten über verschiedene Zeiträume, mit der ich aufzeigen wollte, dass sich solche Einbrüche für Investitionen tatsächlich gut anbieten. Nicht nur, weil man höhere Renditen erwarten darf, sondern insbesondere, weil man schon nach weniger als 14 Jahren von einer positiven Rendite ausgehen darf. Statt den sonst  etwa 21 Jahren.

Bei solchen Aufstellungen bin ich mittlerweile gewohnt die besten/guten (hier Top10 bzw. Top) Ergebnisse wenig bis gar nicht zu beachten, sondern primär auf die schlechtesten Zahlen zu schauen und den Median als Richtwert zu verwenden. Diesmal blieb ich dennoch bei diesen hohen Renditen hängen: ich meine, so circa 25 % über 7 Jahre? Und sollen es nur 20% sein! Kann man sich die unendliche Warterei mit etwas Glück vielleicht wirklich sparen? Glauben Sie mir, ich selbst hätte nichts dagegen und würde auch sofort von einer zügigeren Methode erzählen, wenn die Möglichkeit bei angemessenem Risiko bestünde. Und überhaupt: Was sage ich dann denen, die ich davon abhalten will nach überdurchschnittlichen Renditen zu suchen und die mir oft entgegnen: „Na ja, aber wenn ich wirklich jemanden finde, der mir über ein paar Jahre 25% gibt, dann brauche ich nicht mehr. Was soll ich da mit den 5%-6%, von denen Du mir erzählst?“

Der Blick zu der Tabelle mit den absoluten Geldbeträgen, die ich glücklicherweise schon erstellt hatte, ließ mich nicht nur aufatmen: er bescherte mir die Überraschung, die mich dazu brachte, diesen Beitrag zu schreiben. Ich habe keine Ahnung warum ich bis heute noch nie einen ähnlichen Vergleich berechnet habe. Vermutlich, weil ich mit exponentiellem Wachstum nicht gut genug umgehen kann.

Die Zahlen sprechen, so schwer es auch zu begreifen ist (für mich, zumindest), für sich: Selbst wenn man mit unwahrscheinlichem Glück über 7 Jahre hinweg sein Vermögen mit phänomenalen 25% p.a. anlegt hätte, so hätte man es am Ende „nur“ verfünffacht. Legte man es mit 7,5% p.a. über 42 Jahre an, so hätten man gute Chancen gehabt, sein Vermögen zu verzwanzigfachen. Und nicht nur das: im absolut unglücklichsten Fall hätte man es immer noch verzehnfacht. Ohne viel Glück und ohne absolut irgendwelchen besonderen Fähigkeiten. Vor allem ohne vielversprechender Expertise von Spezialisten (oder besser: gerade deswegen). Und nein, auch ein paar Jahre mehr mit 25% kämen diesem Erfolg nicht nahe. Es wären dafür etwa 14 Jahre nötig (viel Glück daamit).

Es ist jedenfalls wieder einmal ein Beweis dafür, dass man kein Genie sein muss, um am Kapitalmarkt erfolgreich zu sein. Es ist ziemlich einfach, wenn man erst einmal die richtige Perspektive hat. Auch wenn es überhaupt nicht leicht ist: diese unendlich lange Warterei und dann noch diese regelmäßigen Markteinbrüche, die sich wie Faustschläge in den Magen anfühlen.

Es verdeutlicht übrigens den wahren Wert eines Vermögensberaters: Er besteht nicht im klugen (*hust*) Aussuchen der jeweils besten Länder, Sektoren oder gar Aktien. Er besteht primär darin, dass er Anlegerinnen die richtige Perspektive zeigt, ihnen in schwierigen Phasen zur Seite steht und regelmäßig die Macht des exponentiellen Wachstums in Erinnerung ruft. Das erfordert konkretes Wissen viel Erfahrung, sowie spezielle Fähigkeiten. Eine Kombination von Kompetenzen, die Beratungsgebühren in vernünftiger Höhe jedenfalls rechtfertigen.

Die Frage, die sich hier klar stellt: Wollen Sie ein Anleger sein, der mit seinen Anlageerfolgen Bestätigung für seine außerordentlichen Fähigkeiten sucht und mit diesen Erfolgen bei Freunden prahlen kann (ja, Anleger, denn es sind fast nur Männer, die solche Bedürfnisse haben)? Oder eine geduldige Anlegerin, die wenn, dann eher zur Selbstunterschätzung neigt, und so aber wirklich Geld an den Märkten verdient?

Zur Vollständigkeit hier auch die Zahlen für den gesamten Zeitraum seit 1871. Die bisher angeführten hingen mit Kurseinbrüchen von mehr als 30% zusammen. Die Berechnung ist dieselbe (Basis sind Monatsdaten, bereinigt um die Inflation und unter Annahme, dass Dividenden reinvestiert werden. Nicht berücksichtigt sind Kosten und Steuern), nur die Zeiträume sind andere, um einen besseren Eindruck zu bekommen.

Rollierende Monatsdaten bedeutet, dass hier nicht Kalenderjahre untersucht werden, sondern 12-Monats, 36-Monats, …, 840-Monats Zeitspannen. Am Beispiel 7Y: „Top“ gibt an, welche 84-Monats-Zeitspanne seit 1871 die höchste jährliche Durchschnittsrendite erbracht hatte. Sie beträgt 25,4% und betraf den Zeitraum Jan. 1922 bis Jan 1929. Die geringste Rendite, nämlich -7,5%, erhielt man zwischen Dez. 1967 und Dez. 1974.

In der Tabelle fällt ein Ausreißer auf: die beste Rendite über 12 Monate mit +151,3%. Dieser Wert verzerrt das Bild, und man kann ihn gerne ignorieren. Es handelt sich um die Rendite von Juni 1932 bis Juni 1933, als der S&P500 von 4,77 auf 10,39 anstieg.

Die 70 Jahre (70Y), auch wenn ein sehr langer Zeitraum, habe ich aus drei Gründen inkludiert: Um die Kraft des exponentiellen Wachstums zu verdeutlichen; als Argument dafür, dass in Aktien nicht früh genug investiert werden kann, und schließlich: weil Vermögen ja auch vererbt werden kann.

Wenn Sie sehen wollen, wie sich exponentielles Wachstum „in echt“ auswirken kann, dann wird Ihnen dieser Beitrag gefallen: „Zeit>Rendite

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