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Riskante Modelle

Lassen  Sie mich eine Geschichte über Tippfehler erzählen. Ich habe einmal an einem Fall in einem Patentstreit gearbeitet und wurde eingeladen, unseren Anwälten bei der Einvernahme des Wirtschaftsexperten der Gegenseite, Dr. Shaw [Name geändert], zuzusehen.

Obwohl ich die Streitfragen in- und auswendig kannte, wusste ich nicht genau, was unsere Anwälte von Dr. Shaw verlangen würden. So wurde dies für mich zu einer Art Ratespiel. Würden sie nach Patentspezifika fragen? Oder vielleicht, wie Dr. Shaw den Schaden berechnet hat? Nein und nein. Unsere Anwälte gingen einen anderen Weg:

Der leitende Anwalt: „Dr. Shaw, bitte gehen Sie zu Fußnote 4. Was ist ein ‚Transitsor‘?“

Dr. Shaw: „Das ist ein Tippfehler. Es sollte ein Transistor sein.“

Leitender Anwalt: „Okay. Bitte gehen Sie zu Beweisstück 6B. Können Sie bitte das Wort ‚Proczesor‘ in der dritten Spalte von rechts definieren?“

Dr. Shaw: „Tippfehler. Sollte Prozessor sein“.

Leitender Anwalt: „Okay. Können Sie mir bitte in Tabelle 2 sagen, was ein Glasfasrekabel ist?“

Dr. Shaw (jetzt sichtlich frustriert): „Glas FASER. Haben Sie auch eine substanzielle Frage?“

Der leitende Anwalt hielt inne, wandte seinen Blick nach oben und fixierte mit seinem Blick Dr. Shaw.

Leitender Anwalt: „Dr. Shaw, es sind nicht die Fehler, die ich sehe, die mich stören. Es sind die Fehler, die ich nicht sehe.“1Übersetzt vom Original „The Errors That I Don’t see“ im Blog von Nick Maggiulli „Of Dollars And Data

Nick Maggiulli führte diese Geschichte in seinem Blog an, um auf die Bedeutung von Genauigkeit – und die Konsequenzen von Ungenauigkeit – aufmerksam zu machen. Er hat natürlich recht, aber ich habe sie augenblicklich mit einem anderen Thema in Zusammenhang gebracht: Modelle in der Kapitalmarktforschung. Sie sollen Kapitalmärkte beschreiben, helfen sie zu verstehen und in Folge zu überdurchschnittlichen Renditen führen. Die Erfahrung zeigt, dass der überwiegende Großteil der Modelle viel zu viel verspricht und im günstigen Fall die Rendite nur verringert. Wie es die meisten aktiv verwalteten Fonds eindrucksvoll beweisen.2Das beliebteste Modell ist hier immer noch das „Capital Asset Pricing Model“, kurz CAPM, obwohl seine Unzulänglichkeit (sowie jene der noch komplexeren Erweiterungen des Modells) schon längst als erwiesen gilt In schlimmen Fällen können solche Modelle den gesamten Markt, oder sogar das gesamte Finanzsystem gefährden.3Beispielsweise die LTCM-Krise im Jahr 1998. Das faszinierende Buch dazu: „When Genius Failed: The Rise and Fall of Long Term Capital Management“. Und nicht lange danach, mit wesentlich massiveren Auswirkungen, die Finanzkrise ab 2007 Dazu kommt noch der interessante Umstand, dass sich Menschen von solchen Modellen umso eher überzeugen lassen, und ihnen umso mehr vertrauen, je komplexer sind.4Mit Unsicherheit konfrontiert nehmen Menschen alle zur Verfügung stehenden Informationen an, unabhängig davon, ob sie dienlich sind, oder ihre Dienlichkeit überprüft werden kann. Je umfangreicher und/oder komplexer die erlangten Informationen, desto stärker die Überzeugung für die getroffene Entscheidung. Siehe auch „Information Bias“

In ihrem Verlangen nach „wenigstens irgendwelchen“ Anhaltspunkten vernachlässigen Anwender solcher Modelle den Umstand, dass es sich eben nur um Modelle handelt – noch dazu um solche, die auf sehr wackligen Grundlagen aufbauen. Die Formeln und Modelle für den Bau einer Brücke stützen sich auf Annahmen, die seit Ewigkeiten unendlich oft geprüft werden und deshalb als ausreichend verlässlich (jedoch nicht erwiesen) akzeptiert werden. Das Finanzwesen, wie wir es kennen, gibt es seit eingen hundert Jahren und entsprechende Forschung seit weniger als 200 Jahren. Dann kommt da noch die Kleinigkeit dazu, dass Finanzmärkte selbstreferenziell sind, ihr Verhalten sich also durch ihr eigenes Verhalten verändert. Es dürfte der Kapitalmarktforschung eher schmeicheln, wenn ich sie in ein Entwicklungsstadium einordne, das jenem der Physik vor Archimedes oder jener der Medizin vor Hippokrates entspricht. Und trotzdem werden Modelle zur Verwaltung unvorstellbarer Summen in ähnlicher Weise (faktisch meist ohne Vorbehalt) verwendet, wie Physiker es (mit Vorbehalt) mit ihren Modellen tun.

Wie ist so ein Modell aufgebaut? Angenommen, ich bin Ihr Fondsmanager und erkläre Ihnen, warum meine Strategie überdurchschnittliche Renditen bringen wird: Meine Strategie verfolgt einen Value-Ansatz, („Value“: klingt schon wertvoll; ist bei Verwaltern beliebt, die als besonders risikoavers und vernünftig gelten wollen) das heißt, ich investiere nur in Unternehmen, die erwiesenermaßen nachhaltig Werte schaffen können. Ich erkenne solche Unternehmen an ihrem „free Cash-Flow“.

Die Fragen, die Sie sich als Anleger stellen müssen: Ist hinreichend erwiesen, dass der Value-Ansatz überdurchschnittliche Renditen bringt? Ist es hinreichend erwiesen, dass der „free Cash-Flow“ etwas über den nachhaltigen Wert eines Unternehmens aussagt? Ist die Berechnung dieses „free Cash Flows“ richtig? Sind die Daten, die zur Berechnung verwendet werden, fehlerfrei?

Nein, keineswegs, vielleicht und hoffentlich. Wenn ich Sie trotzdem von meinem Zugang überzeugen kann, dann sollten Sie sich am Ende dennoch sagen: Ok, ich glaube ihnen, dass sie als erfahrener Experte diese Unsicherheiten und Fehleranfälligkeiten im Griff haben, Sorgen machen mir aber die, die ich nicht sehen kann.

Profis der Finanzindustrie, ob Vermögensverwalter, Fondsmanager oder Verwalter von Pensionsfonds, verwenden alle möglichen Modelle bereitwillig (vor allem, wenn sie interessante Namen haben und besonders komplex sind), weil sie selbst dabei nur ein geringes Risiko eingehen. Funktioniert das Modell am Ende doch nicht, so ist im schlimmsten Fall der Kunde weg – muss man eben neue finden – oder der Job weg – sucht man eben einen neuen. Als Anleger haben Sie aber nur eine einzige Chance im Leben. Vermögen, das nicht gut, oder sogar schlecht angelegt ist, bekommt man nie wieder zurück. Vertraut man sein Vermögen einem Verwalter und seinen Modellen an, ist es gut möglich, dass man nach 40 Jahren bemerkt, dass die Rendite nur 2% p.a. war. Obwohl ein vollkommen gleichwertiges Portfolio – ohne Expertenberatung und Modellen – 5% p.a. gebracht hätte. Das Vermögen wäre dann unwiederbringlich um 220% geringer (bei einem Anfangskapital von EUR 100.000 wäre das eine Differenz von fast EUR 500.000). Bemerkt man schon nach 15 Jahren und ein paar verschiedenen Beratern, dass Berater und ihre Modelle vielleicht doch nicht liefern was sie versprechen, und wechselt dann zu einer einfachen Strategie, so ist das sicher besser. Aber noch immer unwiederbringlich 50% weniger (bei EUR 100.000 knapp EUR 250.000). Vermögen, das unwiderruflich verloren ist.

Sicher gibt es vielversprechende Modelle, die vielleicht tatsächlich überdurchschnittliche Renditen bringen. Und ich möchte auch festhalten, dass die diversen Profis ihre Modelle sicher nicht anbieten, um Anleger bewusst schlecht zu beraten oder in die Irre zu führen. Das ist, was sie gelernt haben und was ihnen ihre Beschäftigung vorgibt. Die entscheidende Frage ist dennoch, ob man als Investor dieses  erhebliche Risiko eingehen will. Es handelt sich um eines der größten Risiken, die ein Anleger eingeht, und wird, so wie jenes, das ich in einem anderen Beitrag angesprochen habe, selten als solches benannt.

Am Beispiel Ernährung: Am gesündesten ist es, wenn man sich ausgewogen mit unbehandelten Lebensmitteln ernährt. Das reicht vollkommen, auch für – sogar sehr ehrgeizige – Sportler. Spitzensportler ernähren sich (ja, auch hier: basierend auf unterschiedlichen Modellen) einseitiger und verwenden Ergänzungsmittel. Das ermöglicht ihre Spitzenleistungen, birgt aber auch erhebliche Risiken. Sie mögen gute Gründe haben diese Risiken einzugehen, über die Angemessenheit lässt sich aber sogar bei ihnen diskutieren. Bei Amateursportlern – auch wenn sie noch so ehrgeizig sind – dürfte außer Frage stehen, dass die möglichen Risiken in keiner Relation zu den möglichen Vorteilen stehen.

Die Evidenz spricht jedenfalls gegen die Verwendung von Modellen, wie sie bei der aktiven Verwaltung von Vermögen eingesetzt werden. Der Urvater eines der populärsten Modelle5Das beliebteste Modell ist hier immer noch das „Capital Asset Pricing Model“, kurz CAPM, obwohl seine Unzulänglichkeit (sowie jene der noch komplexeren Erweiterungen des Modells) schon längst als erwiesen gilt (Harry M. Markovitz) hat auf die Frage nach seiner persönlichen Anlagestrategie angegeben: „Ich hätte Kovarianzen meiner Vermögensklassen kalkulieren und eine Effizienzkurve zeichnen sollen – stattdessen habe ich meine Beträge 50:50 in Aktien und Anleihen aufgeteilt.“


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