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Prognosen, alle Jahre wieder…

Peter L. Bernstein erzählt in seinem hervorragenden Buch »Wider die Götter« von folgender Begebenheit im Zweiten Weltkrieg: Kenneth Arrow, ein preisgekrönter Gelehrter, war beim Wetterdienst der Luftwaffe eingesetzt, wo er mit der Regenprognose für einen gesamten Monat beauftragt wurde. Er erkannte bald, dass dies unmöglich ist, und informierte seinen Vorgesetzten. Dieser antwortete: »Der kommandierende General weiß sehr wohl, dass die Prognosen nichts taugen. Aber er braucht sie für die Planung«.

Wir Menschen verabscheuen Ungewissheit so sehr, dass wir zu den absurdesten Mitteln greifen, um diese Ungewissheit wenigstens ein bisschen zu verringern. Und wir akzeptieren umso absurdere Mittel, je wesentlicher eine Unsicherheit unser Leben beeinflusst. Ob das Orakel in Delphi, die Runen der Germanen, die Tarot-Karten in Hinterzimmern oder eben die Finanzanalysten und Wirtschaftsexperten in den Glaspalästen: wenn wesentliche Ereignisse, ob Kriege, Schicksale, Lebenssituationen, oder eben Vermögensentwicklungen, nicht vorhersehbar sind, haben wir Menschen schon immer dem unwiderstehlichen Verlangen nachgegeben, Ungewissheit zu verringern. Wenn es sein muss, um jeden Preis. Auch heute noch, obwohl wir zum Mars fliegen, und Atome spalten können. Wir haben nun mal (zum Glück!?) noch keine »Sozialgesetze« entdeckt, die ähnlich verlässlich wie die Naturgesetze sind.

Obwohl wir insgeheim wissen, und es wohl schon immer wussten, dass solche Prognosen nichts taugen, können wir dem Verlangen nicht widerstehen. Nicht einmal dann, wenn wir blendende Beweise für ihre Nutzlosigkeit haben.

Wie zum Beispiel die mittlerweile legendären, von Torsten Sløk1https://www.apolloacademy.com/the-daily-spark/ dargestellten Prognosen der Federal Fund Rate, dem Leitzins in den USA. Die klügsten Analysten, denen praktisch unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen, schaffen es immer wieder nicht, einen der wichtigsten Datenpunkte der Kapitalmärkte auch nur annähernd einzuschätzen. Wobei dieser Datenpunkt, der Leitzins, überdies von Menschen selbst festgelegt wird, also nur in Extremfällen von Zufällen maßgeblich beeinflusst wird.

Bei Kapitalmarktprognosen kommt das Karriererisiko als weiterer erschwerender Umstand hinzu. Ein Risiko, das Experten dazu veranlasst nicht aus der Reihe zu tanzen, auch wenn es ihre Modelle und Methoden verlangen würden. Der Feststellung von John Meynard Kaynes aus dem Jahr 19362“The General Theory of Employment, Interest and Money” folgend: » Die Lebensweisheit lehrt, dass es für den Ruf besser ist konventionell zu scheitern, als unkonventionell erfolgreich zu sein«.

Ein gutes Beispiel dafür sind die alljährlichen Prognosen, die Experten für die Indexstände von Aktienmärkten zum Ende des kommenden Jahres veröffentlichen. Eine der meistbeachteten Prognosen betreffen den US Index S&P 500.

Nehmen wir ein Jahr, für das die optimistischen Analysten der größten Banken3u.a. Credit Suisse, Goldman Sachs, Bank of Montreal, RBC, Citigroup, Barclays, Bank of America, Wells Fargo für den S&P 500  ein Plus von 5% bis 10% prognostizierten, während ihre pessimistischen Kollegen4o.a. UBS und Morgan Stanley ein Minus von bis zu 3,7% voraussagten. Die größte Unsicherheit sahen alle Experten einstimmig im Ausgang der für November anstehenden Präsidentschaftswahlen.

Mit Werten die im Bereich zwischen -5% und +10% liegen, entspricht dies einem typischen Bild der alljährlichen Prognosen. Auffällig ist, dass diese (wenig überraschend, s.o. J.M. Kaynes) unspektakulär und dementsprechend für Aktienanleger eigentlich ein non-event sind. Ok, soll sein, aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Prognosen richtig sind? Glücklicherweise stehen historische Daten zur Verfügung, mit denen man diese Wahrscheinlichkeit berechnen kann.

In den 97 Jahren von 1928 bis 2024 gab es tatsächlich nur 21 Jahre (in der Graphik farblich hervorgehoben), in denen die Jahresrendite des S&P 500 zwischen -5% und +10% lag, bzw. in 21,6% der Jahre. Höher als 10% war die Rendite in 51 Jahren (52,6%), und schlechter als -5% in 25 Jahren( 25,8%).

Wenn man als Laie also zufällig irgendeine Jahresperformance außerhalb des Bereichs -5% bis +10% voraussagen würde, hätte man im Vergleich zu den Experten eine viermal höhere Wahrscheinlichkeit richtig zu liegen.

Auch bemerkenswert: die Wahrscheinlichkeit, dass die Jahresrendite über 10% liegt übersteigt die Wahrscheinlichkeit, dass irgendeiner der Experten richtig liegt, um mehr als das Doppelte. Und schließlich: die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Experten richtig liegt entspricht in etwa der Wahrscheinlichkeit, dass die Jahresrendite mehr als +25% betragen wird.

Das Jahr, auf das sie die o.a. Prognosen der Großbanken beziehen, schloss der S&P 500 übrigens mit einem Plus von etwa 16% ab. Das Thema Renditeprognosen, bzw. Vorhersage der Indexendstände, kann man also mit ungewohnt ruhigem Gewissen als erledigt abhaken. Nicht zuletzt, weil für Aktieninvestoren, wie schon angemerkt, ohnehin nur extremere Entwicklungen von Interesse sind. Wenn man sich beispielsweise auf Einbrüche von 10% und mehr gefasst machen muss, oder sich über Aussichten von Kurssteigerungen von 15% und mehr freuen darf.

Können uns Experten womöglich das bieten? Hmm, ne, wieder nichts. Das Jahr, von dem hier die Rede ist, ist das Jahr 2020. Die größte Überraschung war nicht die Präsidentschaftswahl, sondern eine weltweite Pandemie, die den Index innerhalb von Wochen um mehr als 30% abstürzen ließ. Nicht auszudenken wie die Prognosen ausgefallen wären, hätte ein Orakel den Experten eine solche Epidemie im Voraus verraten.

Als Aktienanlegerin kommt man dem gewünschten Anlageerfolg ein gewaltiges Stück näher, wenn man sich damit abfindet, dass die Entwicklungen der näheren Zukunft nicht absehbar sind. Hat man das geschafft, eröffnet sich sogar die Möglichkeit, eine wahre Super-Power zu erlangen: Die Fähigkeit, sich über das Fortbestehen von Ungewissheit zu freuen! Weil eben genau diese die Quelle der hervorragenden Aktienrenditen sind. Hohe Renditen können ausschließlich in einem ungewissen Umfeld existieren. Das Unbehagen, das Ungewissheit mit sich bringt, ist der Eintrittspreis für den Genuss von großartigen Renditen.

Man kann sich auch einen günstigeren Platz, in den hinteren Reihen, kaufen. Indem man den Aktienanteil im Portfolio, und somit die Ungewissheit verringert. Man wird dann allerdings auch entsprechend weniger vom Spektakel mitbekommen.

Die Herausforderung besteht offenkundig nicht im Vorhersehen des Unvorhersehbaren, sondern in der sorgfältigen Vorbereitung auf das Ungewisse. Damit man auch das größte Ungemach mit verkraftbaren Blessuren überstehen kann.

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